Wo geht’s hier nach Amerika?
Kurzgeschichte von Dirk Hagen
Das Leben ist manchmal ganz schön kompliziert, egal wie alt man ist, egal wie groß man ist und egal, unter welchen Umständen man lebt. Aber nur manchmal. Auch aus der Sicht eines Dreijährigen ist das Leben nicht immer einfach. Alles scheint klar und deutlich, alles ist so, wie es ist. Dann wieder gibt es Ereignisse, die alles über den Haufen werfen. Ereignisse, die prägen, für immer. Sie prägen den ganzen weiteren Verlauf des Lebens. Hinzu kommt, dass die Erwachsenen sich oft unlogisch verhalten, undurchsichtig, völlig unerklärlich. So empfand es auch häufig der kleine Dirk.
Die Erwachsenen, das waren die Eltern, die Großeltern und die Nachbarn. Die Nachbarn beachteten den kleinen Dirk kaum, es sei denn, er hatte irgendwas angestellt, was denen nicht in den Kram paßte. Die Eltern, naja, die hatten doch immer irgendwas zu tun, hatten nie viel Zeit für das Kind.Vater war den ganzen Tag nicht zu Hause. Er kam immer kurz bevor Dirk ins Bett mußte. Und Mutter? Sie war zwar immer da, aber Dirk konnte ihr nie was Recht machen. Alles war verboten. Nichts durfte er anfassen. Da blieben noch die Großeltern, die im gleichen Haus wohnten. Oma hatte auch viel im Haushalt zu tun. Sie half Opa zwischendurch beim Abwiegen und Verpacken der geräucherten Fische. Dann durfte Dirk schon mal helfen, oder zumindest zusehen. Interessanter wurde es schon, wenn Opa rief, meist nachdem Oma durch das Fenster nach draußen rief: „Hol den Jungen hier mal weg, der raubt mir den letzten Nerv!“ So ein Blödsinn, ich habe der Oma noch nie was geraubt, außer ein Stück Würfelzucker und, wie kann man Nerven rauben?
Also ging ich zu Opa Albert nach draußen. Er saß auf dem Hof und schlachtete Aale und Brassen. Er hatte um sich herum immer viele Eimer, Töpfe und große Behälter stehen. Einige Tonnen waren gefüllt mit lebenden Aalen. Die Aale hatten wir am Vortag vom Kutter geholt. In ein paar Tagen kommt der Rodenkircher Markt und da wird immer viel Räucheraal gegessen. Und Opas Räucheraal schmeckte immer am Besten. Es war aufregend, Opa beim Schlachten zuzusehen. Die Aale zappelten, drehten sich und sprangen aus dem Eimer. Es war Dirks Aufgabe, die Aale wieder einzufangen, bevor die Hühner sie erwischten. Die Hühner umlagerten Opa immer und warteten nur darauf, die eine oder das andere Stückchen zu ergattern. Dirk war schon sehr geschickt mit den kleinen Händen. Er warf zwei Hände voll Sand auf den Aal, griff dann blitzschnell mit beiden Händen zu und warf den Aal schnell in den Behälter zurück, bevor er sich um die kleinen Ärmchen wickeln konnte. Die ganz Großen machten ihm schon zu schaffen. Einmal hatte sich doch so ein Ungeheuer um den Hals des Jungen gewickelt. Opa hat ihn dann gerettet. Das war ganz schön gefährlich, aber Opa hat darüber nur gelacht. Dirk hatte danach noch lange Zeit Alpträume von diesem schlimmen Erlebnis. Trotz dieser ekeligen und manchmal gefährlichen Situationen war es faszinierend, dabei zu sein. Opa war immer sehr ruhig dabei. Er kaute auf seinem Kautabak, summte ein Lied und machmal sang er es auch. Es war immer das gleiche Lied von einer toten Mannes Kiste mit einer Buddel voll Rum. Dirk konnte es schon fast nachsingen. Er durfte es aber nicht, Mutter hatte es verboten.
Eines Tages erzählte Opa Albert von Vorfahren unserer Familie, die nach Amerika ausgewandert sein sollen und um dort ihr Glück zu finden. Das war interessant. Dirk wollte alles wissen. „Ist Amerika weit von hier?“ „Wie lange muss man laufen?“ „Wo fahren denn die Schiffe ab?“ „Warum fahren wir nicht mit dem Kutter dorthin?“ Anfangs gab Opa Albert noch gerne Auskunft. Er ging mit Dirk sogar an die Straße und zeigte mit dem ausgestreckten Arm in Richtung Norden: „Das ist die Richtung, da geht’s nach Amerika!“ Jetzt, wo Dirk über Amerika immer mehr wissen wollte, redete Opa immer weniger, bis er sich restlos in Schweigen hüllte und wieder dieses Lied summte.
Dirk hatte heute Streit mit seiner Mutter. Wie schon so oft. Dabei konnte er doch wirklich nichts dafür. Er wollte seiner Mutter in der Küche helfen. Dabei ist es irgendwie passiert. Ein ganzer Stapel mit Tellern rutschte von der Spüle und knallte auf den Boden. Zwei Teller blieben heil. Beim Aufsammeln der Scherben schnitt Mutter sich in den Finger. Sie wurde sehr zornig und schimpfte laut. Das konnte Dirk überhaupt nicht ertragen. „Mama, darf ich jetzt nach draußen?“ Das war sicherlich die falsche Frage zum falschen Zeitpunkt. Spontan, aber bewusst provokativ hatte Dirk diese Frage gestellt, sozusagen als Trotzreaktion auf die ungerechte Schimpfe. Die Gegenreaktion seiner Mutter folgte sogleich. Er fühlte sich plötzlich am Kragen gepackt und unsanft, mit Schwung, in sein Zimmer befördert, wo er lang auf den Boden fiel. Das tat weh, die rechte Schulter schmerzte ihm. Oder war es die Linke? Aber es war nicht der Schmerz an der Schulter. Es war nicht mal eine kleine Schramme, es war eher gar nichts zu sehen. Es war ein Schmerz ganz tief drinnen, ein Schmerz, der nicht weiter zu beschreiben ist. Er kommt aus dem Bauch, zieht nach oben in den Hals und schnürt ihn solange ab, bis die Tränen aus den Augen laufen. Dirk war wütend, Sehr wütend. Am liebsten hätte er laut geweint, wie er es als kleines Kind schon so oft getan hatte. Dann bekam er seine Flasche Milch, wurde auf den Arm genommen und es war gut. Jetzt aber nicht. Jetzt war schon ein großer Junge, immerhin dreieinhalb Jahre alt. Er wusste, jetzt nimmt ihn niemand auf den Arm, obwohl er es sich eventuell gewünscht hätte. Ein tröstendes Wort und seine Wut wäre sofort verraucht. Aber wer soll ihn trösten? Seine Oma hätte nur gesagt: „Jungs weinen nicht, Jungs sind stark!“ Dirk war stark. Es soll niemand sehen, wenn er weint. Es sollte ihn überhaupt niemanden mehr sehen. Sein Entschluss stand fest. In diesem Land hatte er kein Glück. Das Glück liegt in Amerika. So wie es Dirks Vorfahren schon erlebt haben. Plötzlich konnte er die Beweggründe für die Auswanderung nachvollziehen. So muss es damals auch gewesen sein. Unterdrückung, Ungerechtigkeit, Unglück, ein Haufen Scherben und kein tröstendes Wort, das ist Grund genug, das Land zu verlassen. Dirk überlegt nicht länger, er handelte.
Er nahm ein Tuch, warf die wichtigsten Spielsachen, viel hatte er ja sowieso nicht, auf einen Haufen und wickelte sie ein. Das Fenster öffnete er ganz leise, seine Mutter sollte es nicht hören und stieg vorsichtig hindurch. Er lief unter den Fenster entlang hinter das Haus zur Wohnung der Großeltern. Die Tür stand offen, es war niemand zu sehen. Oma war sicherlich im Garten. Er ging in die Küche. Der Brotkasten stand gleich rechts um die Ecke auf dem alten Küchenschrank. Er griff sich, soviel er bekommen und tragen konnte und stopfte sich die Taschen voll. Jetzt schnell raus hier, um die Hausecke und so schnell wie es geht so weit weg, wie nur möglich. Anfangs ging er noch sehr zügig, um Abstand zu gewinnen. Er hatte Angst, gesehen zu werden. Dann würde man ihn zurückrufen und er würde ja nie nach Amerika kommen. Das Ziel vor Augen, marschierte Dirk los. Immer Richtung Norden. In die Richtung, die Opa Albert ihm gezeigt hatte. Immer ein Fuß vor den anderen. Nicht mehr nach hinten sehen. Dirk hatte ein Schlussstrich unter das bisherige Leben gezogen. Es gab kein Zurück mehr. Viele Erinnerungen gingen ihm durch den Kopf. Immer wieder hatte er seinen Großvater, den Fischkutter und den Strohauser Siel vor Augen. Er wird ihn niemals wiedersehen. Ihm liefen schon wieder die Tränen über die Wangen. Macht nichts, es sieht ja keiner. Aber ein Zurück gibt es trotzdem nicht.
Dirk fing an, den Weg zu genießen. Es war ja auch zu schön heute. Die Sonne schien, auf den Feldern ernteten die Bauern das letzte Heu für den Winter und entgegenkommende Radfahrer grüßten freundlich. Überall zwitscherten die Vögel, die Heuschrecken sprangen vor ihm vom Bürgersteig und die Schwalben flogen im Tiefflug über ihn hinweg. Wie schön kann doch alles sein. Er hatte schon längst seinen Schritt verlangsamt. Schließlich muss er sich die Kräfte einteilen. Kein Mensch hat ihm ja sagen können, wie weit es bis Amerika ist. Jetzt konnte ihn keiner mehr sehen. Vorsichtig wagte er einen Blick nach hinten. Keine Verfolger. Er hat es geschafft. Es kam so etwas wie Euphorie auf und er sang das Lied seines Großvaters. Das mit der Toten-Mannes-Kiste und der Buddel voll Rum. Wer soll ihm das jetzt verbieten. Je lauter er sang, um so weniger dachte er an zu Hause. Das Bild des Hafens und des Fischkutters verblasste immer mehr in seinen Gedanken.
Die Füße schmerzten ihm schon etwas, aber er verdrängte diesen Schmerz. Es lag ein langer Weg vor ihm und er hatte das Ziel vor Augen. Er setzte die Füße automatisch voreinander, wie eine Maschine. Immer schön gleichmäßig, Schritt für Schritt. Das erste Stück Brot hatte er schon aufgegessen, als ihm eine ältere Frau auf dem Fahrrad überholte. Er kannte die Frau vom sehen. Sie wohnte irgendwo in der Nachbarschaft und hieß Tante Elli. „Moin, mien Jung, wo willst du denn hin?“ „Nach Amerika“, rief Dirk freudestrahlend, „weißt du, wie weit das noch ist?“ Tante Elli sprang vom Fahrrad und lachte freundlich. „Nein, das weiß ich auch nicht, aber sechs Kilometer hast du schon hinter dir! Übrigens, deine Eltern und deine Großeltern suchen dich schon eine ganze Weile, die vermissen dich!“ Dirk blickte nachdenklich, sollte es wirklich so sein, das sie ihn vermissen? Tante Elli sprach in seine verwirrten Gedanken hinein: “Gleich gibt es Abendbrot, dein Opa hat dir schon einen Räucheraal hingelegt, soll ich dich jetzt nach Hause bringen? Kannst bei mir auf dem Gepäckhalter sitzen!“
Irgendwie löste sich plötzlich bei Dirk ein bedrückendes Gefühl, ein ganz dummes Gefühl, das er eigentlich die ganze Zeit schon hatte. Erleichtert und mit Herzklopfen sagte er: „Ja gut, fahr mich man nach Hause!“ Er freute sich auf den Räucheraal.
© Dirk Hagen